Mein Körper wurde soeben partiell desintegriert. Doch er wird in Zukunft eine neue Einheit bilden. So wie er täglich unbemerkt Zelle für Zelle nach eigener Vernunft ersetzt, werde auch ich ersetzt worden sein.
Schlagwort: Wucherung
Kurierprotokoll #8
Ich fahre jetzt ein Bahnrad auf der Straße. D.i. ein Fahrrad, dessen Antrieb fest miteinander verbunden ist. Trete ich nach Vorne, fährt es vorwärts, trete ich nach hinten, fährt es rückwärts. Man sagt, das Fahrradfahren verlernt man nicht. Das scheint ein körperphilosophisches Axiom des Alltags zu sein. Ein Bahnrad hingegen ist die Möglichkeit, Radfahren neu zu erlernen und wenigstens an diesem Axiom zu rütteln. Wann hast du dich zuletzt getraut, etwas von Grund Auf neu zu erlernen und dich damit raus zu wagen? Wann hast du damit aufgehört? Hängt es damit zusammen, dass du den ganzen Tag sitzt und auch in deinem Kopf immer bequemer wirst?
Ich arbeite an der vollkommenen Verunsicherung – auch an deiner. Denn Sicherheit ist ein Schwindel.
Kurierprotokolle #6
Es gibt unterschiedliche Maschinen. Die Apathischen, die dich verstümmeln; und die Prothesen, die dich aufbauen. Die Apathischen findest du in der Industrie. Sie sind Machtinstrument gegen deine Integrität. Sie müssen dich brechen, damit du weiter in deinem Schlachthof arbeitest. Vergiss dabei nicht, dass die Maschinen deine Verbündeten sind. Jene, die dein Fließband produzieren, sind das Problem – und übrigens auch keine Vorbilder, sondern im intimsten Fall dein Feind. Denn was da fließt auf dem Fließband, sind nicht die extatischen Ströme deines Körpers. Du stehst still. Es ist der Strom der Warenproduktion, der kapitalistische Orgasmus. Das Fahrrad hingegen gehört zu den Prothesen, es macht uns zu Prothesengöttern. Die Fahrradmaschine lässt uns in den öffentlichen Raum eindringen und den Autoverkehr stören. Mit ihr sind wir schön. Unser Strom in den Beinen bringt uns in den Fluss der Stadt. Wenn wir ausreichend viele sind, bestimmen wir, wie die Stadt fließt. Doch das Unbehagen in der Kultur wird bleiben.
Ein Experiment nach Theweleit: Männerphantasien; Freud: Das Unbehagen in der Kultur; Deleuze/Guattari: Der Anti-Ödipus.
Kurierprotokolle #4
Sei gegrüßt, sagte sie, als sie anrollte. So standen sie sich gegenüber. Eine Fahrradkurierin und ein Fahrradkurier. Sie sahen sich irgendwie ähnlich mit ihren Helmen und Fahrradkappen mit aufgestelltem Schirm darunter und den geflochtenen Haaren. Sie musste zu ihm aufschauen, er war gedanklich woanders. Ihre und seine Waden pumpten, die letzten Fahrten des Tages standen bevor. Sie stellten sich einander vor und ob er auch für dies oder jene Vermittlung führe – aber darum ging es eigentlich nicht. Er hatte es noch nicht verstanden, doch sie war der Blitz und er der Donner. Und der Donner ist immer langsamer, als der Blitz. Ob er noch etwas für das Labor habe, fragte sie ihn. Er kam gerade von dort, verneinte und verabschiedete sich, stieg in den Sattel und in die Pedale. Es war kein Zufall, dass sie sich begegneten. Der Disponent hatte Ort und Zeit ihres Aufeinandertreffens bestimmt. Das war seine Aufgabe.
Kurierprotokolle #3
Verpiss dich von der Straße und fahr auf den Fahrradweg! – Wo soll denn bitte hier ein Fahrradweg sein? Da ist nur eine weiße Linie in der Mitte des Gehwegs.
Fahr auf der Straße, nicht auf dem Gehweg! – Sie könnten mir ja helfen, mein Fahrrad über die geparkten Autos zu heben; oder einfach einen Schritt zur Seite gehen.
Bist du lebensmüde neben meinem LKW zu fahren, während ich rechts ranfahren möchte? – Naiverweise dachte ich, auf den Fahrradweg dürfen keine LKWs bei durchgezogener Linie rechts ran. Aber zum Glück hast du mich belehrt, nachdem ich mich beinahe von dir habe zerquetschen lassen.
Kurierprotokolle #1
Ist Urbanität eine Lebensform oder Parzellierung des Zusammenlebens bis zur Vereinzelung? Was verbindet die BewohnerInnen einer Stadt ganz südlich mit den BewohnerInnen ganz nördlich? Diese Frage hat sich mir aufgedrängt, als ich von Neuperlach im Südosten nach Moosach im Nordwesten Münchens gefahren bin. Ich saß dort an einem Brunnen, nachdem ein Autofahrer gefährlich nah an mich heran fahren musste, um mich zu beleidigen. Drei Bauarbeiter schuffteten in der Hitze. Ein älteres Paar aß am Brunnen. Einige standen an der Tram-Haltestelle. Eigentlich hatte nichts mit nichts zu tun. Jeder und jede für sich, waren mit beiden Beinen dort verortet, wo sie sich befanden. Sie waren keine MünchnerInnen – in diesem Moment waren sie bloß Bipedisten.
Ich machte sie schwanger, wir verstanden uns gut. Sie wurde immer dicker, das war schön. Sie legte eine Larve ans Ende des Zimmers, ich verstand nicht. Schließlich wurde alles schwarz.
Eine einmalige Gelegenheit ist mir heute zu Ohren gekommen, dass das ganze Untergeschoß des Hauptbahnhofs nach menschlicher Scheiße riecht. Hunderte Kubikmeter Raum. Ich bin erwartungsvoll aufgebrochen. Doch als ich vor dem Abgang stand, wurde mir Bange. Ich habe mich nicht getraut.
Heute habe ich mir ein Sigel geschaffen. Ich war ergriffen. Morgen werde ich gehen.