Kurierprotokoll

Das Wetter wird besser, die E-Rad-Rentner kommen hervor. Sie sind leicht zu erkennen. Meistens sind sie wackelig, vor allem wenn sie langsam mit ihren  E-Rädern fahren müssen. Sie fallen auch mal um, wenn sie plötzlich bremsen müssen. Außerdem sind sie im Geschwindigkeitsrausch. Denn so schnell sind sie schon seit Jahrzehnten – oder noch nie – mit dem Fahrrad gewesen. Das trübt ihre Entscheidungsfähigkeit. Sie meinen, sie müssten Rennen mit Rennradfahrern starten und gefährden dadurch sich und andere. Sie meinen, sie müssten alle überholen und schätzen Freiräume deutlich zu groß ein. Wenn der Motor dann ab 25 km/h ausschaltet, sind sie überrascht. Diese Arroganz gibt es häufig kostenlos zu E-Rädern dazu. Denn eigentlich sind sie Fahranfänger, die mit viel zu wuchtigen Rädern (aber immer mit Helm!) viel zu schnell fahren können.

Man kann ihnen allerdings wenig vorwerfen. Sie sind Werbelügen aufgesessen. Fitness, Umwelt, länger leben. Ich halte dagegen: ein Antrieb statt Training, ein Motor inklusive sehr umweltschädlicher Batterie und viele Verletzte und Tote, die mit ihren E-Rädern nicht umgehen konnten.

Kurierprotokolle X

Krankenhäuser gehören nicht zu meinen üblichen Aufenthaltsorten. Was ist die Funktion dieser Orte? Auf den Alarmknöpfen sind noch immer Klosterschwestern abgebildet: kleine Piktogramme von guten Christinnen. Die Zeit, in der Kranke und Krüppel Katalysatoren guten Christentums waren, sind hier vorbei. Heute sind wir Patienten und die Nonnen sind ausgebildete Pflegerinnen und Pfleger. Und sie verdienen Geld. Manche private Krankenhausunternehmen sind börsennotiert. Damit werden Patienten zur Ressource, einem zerfallenden Rohstoff, an dessen Erhalt Geld verdient wird. Das individuelle Leben kann nicht erhalten werden, der Übergang von lebender zu nicht-lebender respektive toter Materie steht jedem für sich bevor. Was nach einem Ende klingt und dem Scheitern jeder krankenhäuslichen Erfolgsgeschichte, ist ein Fluss, an dem alle Akteure teilhaben. Gemeinsam fließen, so lange und ungestüm, wie es geht, ist mein Ziel. – und die nächsten Drogen nehme ich zum Spaß und nicht für eine Anästhesie.

Kurierprotokoll #8

Ich fahre jetzt ein Bahnrad auf der Straße. D.i. ein Fahrrad, dessen Antrieb fest miteinander verbunden ist. Trete ich nach Vorne, fährt es vorwärts, trete ich nach hinten, fährt es rückwärts. Man sagt, das Fahrradfahren verlernt man nicht. Das scheint ein körperphilosophisches Axiom des Alltags zu sein. Ein Bahnrad hingegen ist die Möglichkeit, Radfahren neu zu erlernen und wenigstens an diesem Axiom zu rütteln. Wann hast du dich zuletzt getraut, etwas von Grund Auf neu zu erlernen und dich damit raus zu wagen? Wann hast du damit aufgehört? Hängt es damit zusammen, dass du den ganzen Tag sitzt und auch in deinem Kopf immer bequemer wirst?

Kurierprotokolle #6

Es gibt unterschiedliche Maschinen. Die Apathischen, die dich verstümmeln; und die Prothesen, die dich aufbauen. Die Apathischen findest du in der Industrie. Sie sind Machtinstrument gegen deine Integrität. Sie müssen dich brechen, damit du weiter in deinem Schlachthof arbeitest. Vergiss dabei nicht, dass die Maschinen deine Verbündeten sind. Jene, die dein Fließband produzieren, sind das Problem – und übrigens auch keine Vorbilder, sondern im intimsten Fall dein Feind. Denn was da fließt auf dem Fließband, sind nicht die extatischen Ströme deines Körpers. Du stehst still. Es ist der Strom der Warenproduktion, der kapitalistische Orgasmus. Das Fahrrad hingegen gehört zu den Prothesen, es macht uns zu Prothesengöttern. Die Fahrradmaschine lässt uns in den öffentlichen Raum eindringen und den Autoverkehr stören. Mit ihr sind wir schön. Unser Strom in den Beinen bringt uns in den Fluss der Stadt. Wenn wir ausreichend viele sind, bestimmen wir, wie die Stadt fließt. Doch das Unbehagen in der Kultur wird bleiben.

Ein Experiment nach Theweleit: Männerphantasien; Freud: Das Unbehagen in der Kultur; Deleuze/Guattari: Der Anti-Ödipus.

Kurierprotokolle #3

Verpiss dich von der Straße und fahr auf den Fahrradweg! – Wo soll denn bitte hier ein Fahrradweg sein? Da ist nur eine weiße Linie in der Mitte des Gehwegs.

Fahr auf der Straße, nicht auf dem Gehweg! – Sie könnten mir ja helfen, mein Fahrrad über die geparkten Autos zu heben; oder einfach einen Schritt zur Seite gehen.

Bist du lebensmüde neben meinem LKW zu fahren, während ich rechts ranfahren möchte? – Naiverweise dachte ich, auf den Fahrradweg dürfen keine LKWs bei durchgezogener Linie rechts ran. Aber zum Glück hast du mich belehrt, nachdem ich mich beinahe von dir habe zerquetschen lassen.