Kurierprotokoll

Das Wetter wird besser, die E-Rad-Rentner kommen hervor. Sie sind leicht zu erkennen. Meistens sind sie wackelig, vor allem wenn sie langsam mit ihren  E-Rädern fahren müssen. Sie fallen auch mal um, wenn sie plötzlich bremsen müssen. Außerdem sind sie im Geschwindigkeitsrausch. Denn so schnell sind sie schon seit Jahrzehnten – oder noch nie – mit dem Fahrrad gewesen. Das trübt ihre Entscheidungsfähigkeit. Sie meinen, sie müssten Rennen mit Rennradfahrern starten und gefährden dadurch sich und andere. Sie meinen, sie müssten alle überholen und schätzen Freiräume deutlich zu groß ein. Wenn der Motor dann ab 25 km/h ausschaltet, sind sie überrascht. Diese Arroganz gibt es häufig kostenlos zu E-Rädern dazu. Denn eigentlich sind sie Fahranfänger, die mit viel zu wuchtigen Rädern (aber immer mit Helm!) viel zu schnell fahren können.

Man kann ihnen allerdings wenig vorwerfen. Sie sind Werbelügen aufgesessen. Fitness, Umwelt, länger leben. Ich halte dagegen: ein Antrieb statt Training, ein Motor inklusive sehr umweltschädlicher Batterie und viele Verletzte und Tote, die mit ihren E-Rädern nicht umgehen konnten.

Kurierprotokoll #11

Den besten Blick auf den bayerischen Landtag hat man von der Maximilianstraße. Das ist eine der teuersten Einkaufsmeilen der Welt. Sie liegt dem Parlament direkt zu Füßen. Nicht nur praktisch, auch effizient.

Kurierprotokolle #9

Mein Körper wurde soeben partiell desintegriert. Doch er wird in Zukunft eine neue Einheit bilden. So wie er täglich unbemerkt Zelle für Zelle nach eigener Vernunft ersetzt, werde auch ich ersetzt worden sein.

Kurierprotokoll #8

Ich fahre jetzt ein Bahnrad auf der Straße. D.i. ein Fahrrad, dessen Antrieb fest miteinander verbunden ist. Trete ich nach Vorne, fährt es vorwärts, trete ich nach hinten, fährt es rückwärts. Man sagt, das Fahrradfahren verlernt man nicht. Das scheint ein körperphilosophisches Axiom des Alltags zu sein. Ein Bahnrad hingegen ist die Möglichkeit, Radfahren neu zu erlernen und wenigstens an diesem Axiom zu rütteln. Wann hast du dich zuletzt getraut, etwas von Grund Auf neu zu erlernen und dich damit raus zu wagen? Wann hast du damit aufgehört? Hängt es damit zusammen, dass du den ganzen Tag sitzt und auch in deinem Kopf immer bequemer wirst?

Kurierprotokolle #7

Ich habe gewartet. Auf den nächsten Auftrag. Er hätte jeden Moment kommen können. Oder niemals. Die Ungewissheit über die Größe dieses variablen Zeitraums hat mich der Zeit gänzlich enthoben und mich auf einer Parkbank am Rande der Ludwigstraße zurückgelassen. Dieses Warten war eine Zumutung! – und Befreiung! – und bloßer Schein.

Kurierprotokolle #6

Es gibt unterschiedliche Maschinen. Die Apathischen, die dich verstümmeln; und die Prothesen, die dich aufbauen. Die Apathischen findest du in der Industrie. Sie sind Machtinstrument gegen deine Integrität. Sie müssen dich brechen, damit du weiter in deinem Schlachthof arbeitest. Vergiss dabei nicht, dass die Maschinen deine Verbündeten sind. Jene, die dein Fließband produzieren, sind das Problem – und übrigens auch keine Vorbilder, sondern im intimsten Fall dein Feind. Denn was da fließt auf dem Fließband, sind nicht die extatischen Ströme deines Körpers. Du stehst still. Es ist der Strom der Warenproduktion, der kapitalistische Orgasmus. Das Fahrrad hingegen gehört zu den Prothesen, es macht uns zu Prothesengöttern. Die Fahrradmaschine lässt uns in den öffentlichen Raum eindringen und den Autoverkehr stören. Mit ihr sind wir schön. Unser Strom in den Beinen bringt uns in den Fluss der Stadt. Wenn wir ausreichend viele sind, bestimmen wir, wie die Stadt fließt. Doch das Unbehagen in der Kultur wird bleiben.

Ein Experiment nach Theweleit: Männerphantasien; Freud: Das Unbehagen in der Kultur; Deleuze/Guattari: Der Anti-Ödipus.

Kurierprotokolle #5

Wenn ein dicker Busfahrer aus seinem Führerhäuschen einen Fünfer auf der Straße sieht und mir, der ich am Straßenrand stehe, Handzeichen gibt, dass mir die Straße Trinkgeld verspreche, sofern ich die Mitte der Kreuzung erreiche. Eine Konstellation wie in einem RPG. Traue ich der Situation oder wittere ich einen Hinterhalt? Ist es ein Busfahrer oder ein böser Magier? Ich traue ihm und nachdem ich mir den Fünfer geschnappt habe, feierten wir beide den Sieg über den Kapitalismus.

Kurierprotokolle #4

Sei gegrüßt, sagte sie, als sie anrollte. So standen sie sich gegenüber. Eine Fahrradkurierin und ein Fahrradkurier. Sie sahen sich irgendwie ähnlich mit ihren Helmen und Fahrradkappen mit aufgestelltem Schirm darunter und den geflochtenen Haaren. Sie musste zu ihm aufschauen, er war gedanklich woanders. Ihre und seine Waden pumpten, die letzten Fahrten des Tages standen bevor. Sie stellten sich einander vor und ob er auch für dies oder jene Vermittlung führe – aber darum ging es eigentlich nicht. Er hatte es noch nicht verstanden, doch sie war der Blitz und er der Donner. Und der Donner ist immer langsamer, als der Blitz. Ob er noch etwas für das Labor habe, fragte sie ihn. Er kam gerade von dort, verneinte und verabschiedete sich, stieg in den Sattel und in die Pedale. Es war kein Zufall, dass sie sich begegneten. Der Disponent hatte Ort und Zeit ihres Aufeinandertreffens bestimmt. Das war seine Aufgabe.

Kurierprotokolle #3

Verpiss dich von der Straße und fahr auf den Fahrradweg! – Wo soll denn bitte hier ein Fahrradweg sein? Da ist nur eine weiße Linie in der Mitte des Gehwegs.

Fahr auf der Straße, nicht auf dem Gehweg! – Sie könnten mir ja helfen, mein Fahrrad über die geparkten Autos zu heben; oder einfach einen Schritt zur Seite gehen.

Bist du lebensmüde neben meinem LKW zu fahren, während ich rechts ranfahren möchte? – Naiverweise dachte ich, auf den Fahrradweg dürfen keine LKWs bei durchgezogener Linie rechts ran. Aber zum Glück hast du mich belehrt, nachdem ich mich beinahe von dir habe zerquetschen lassen.

Kurierprotokolle #2

Ich habe Menschliche Scheiße zwischen Bayerstraße und Aufzug in den Untergrund gesehen. Der schmale Randstein reicht nicht einmal, um vollständig in die Hocke zu gehen. Die Stelle ist von allen Seiten einsehbar, selbst vom gläsernen Lift. Diese Intimität gibt es nur in der Stadt.